Genese
Urplötzlich ist es da. Der Bundestag hatte das „Gesetz zur Einführung eines Leitentscheidungsverfahrens beim Bundesgerichtshof“ am 25.09.2024 beschlossen, der Bundesrat keinen Einspruch hiergegen eingelegt, sodass es am 30.10.2024 im Bundesgesetzblatt (I, Nr. 328) verkündet und einen Tag nach der Verkündung bereits in Kraft getreten ist.
Doch warum ist dieses neue Gesetz für Massenverfahren relevant und welchen Inhalt und welche Auswirkungen hat es auf diese Verfahren?
Auswirkungen auf Masseverfahren
Mit dem Gesetz wird der Bundesgerichtshof (BGH) in Revisionssachen bei zivilrechtlichen Massenverfahren in die Lage versetzt, auch dann eine „Leitentscheidung“ zu treffen, wenn die Revision zuvor beendet worden ist. Dadurch soll es den Instanzgerichten ermöglicht werden, zumindest eine „gutachterliche Stellungnahme“ des BGH zu erhalten, der sich nämlich bislang aufgrund der Revisionsbeendigung nicht mehr in der Sache hätte äußern dürfen.
Mittels dieser – rechtlich zwar unverbindlichen – Leitentscheidung kann sich der BGH zu entscheidungserheblichen Rechtsfragen äußern, die in einer Vielzahl anderer Verfahren von Bedeutung sind. Das kann vor allem in sogenannten Massenverfahren, zum Beispiel im Bereich der Rückzahlung von Wetteinsätzen beim online-Glücksspiel oder bei online-Sportwetten, bei Klagen aufgrund der Flugastrechteverordnung, des Diesel-Skandals oder bei Datenschutzverstößen, der Fall sein. In diesen Verfahren war es in der Vergangenheit häufig eine gängige Prozesstaktik, dass die Parteien sich kurz vor einer Entscheidung des BGH einvernehmlich einigten oder die Revision aus taktischen Gründen zurückgezogen wurde, um zu verhindern, dass der BGH über die streitigen und oftmals ökonomisch enorm bedeutsamen relevanten Rechtsfragen entscheiden konnte („Flucht aus der Revision“). Für die Parteien konnte dies lohnenswert sein, für die Instanzgerichte war dies sicherlich ärgerlich, weil diese sich weiterhin einer Vielzahl gleichgelagerter Verfahren ausgesetzt sahen, ohne dass der BGH ihnen eine Richtschnur und Orientierung hatte geben können.
Die Arbeitsbelastung der Instanzgerichte war es auch, die den Gesetzgeber zur Schaffung der Möglichkeit einer „Leitentscheidung“ veranlasst haben.
Wesentliche Neueinführungen
- § 552b ZPO: Der BGH kann mittels Beschluss ein Revisionsverfahren zu einem Leitentscheidungsverfahren erklären, wenn er Rechtsfragen für bedeutend genug hält, um eine Leitentscheidung zu treffen.
- § 565 ZPO: Wird das Verfahren beendet, ohne dass ein inhaltliches Urteil ergehen muss, trifft der BGH mittels Beschluss eine sogenannte Leitentscheidung, in der er eine Orientierung darüber gibt, wie die Entscheidung im konkreten Fall vermutlich ausgefallen wäre. Diese Leitentscheidung hat keine formale Bindungswirkung.
- § 148 Abs. 4 ZPO: Instanzgerichte können bei ihnen rechtshängige Verfahren aussetzen, wenn deren Entscheidung von einer Rechtsfrage abhängt, die Teil eines Leitentscheidungsverfahrens ist.
Kritik und Ausblick
Was bleibt ist eine Hoffnung, aber auch Chance, auf eine signifikante Reduzierung der „Klagenlast“ bei deutschen Zivilgerichten, denn immerhin gibt es nun die Möglichkeit, dass der BGH unabhängig vom Parteiwillen seine Rechtsansichten äußert. Das ist durchaus ein Fortschritt.
Kritisch könnte sein, dass die neue Möglichkeit zur Leitentscheidung weder verfahrensbeschleunigende Wirkung auf das konkrete Revisionsverfahren oder sonstige rechtshängige Zivilverfahren, noch den Vorteil einer Letztverbindlichkeit hat. Zudem können die Instanzgerichte ebenso wie der BGH selbst von der Leitentscheidung abweichen.
Es wird vermutlich darauf ankommen, wie sich die Akzeptanz der Leitentscheidung auf Seiten der Instanzgerichte entwickeln wird. Das hängt sicherlich von der Qualität der Leitentscheidung ab, aber auch vom Willen der Instanzgerichte, diesen zu folgen. Diejenigen, die die „Flucht aus der Revision“ als gangbares taktisches Mittel angesehen haben, werden sich womöglich umorientieren (müssen). Es könnte durchaus sein, dass sie grundsätzliche Rechtsfragen gar nicht mehr gerne bis vor den BGH bringen möchten, sondern spätestens auf der unmittelbar vorgelagerten Ebene versuchen werden, den Rechtsstreit (urteilslos) zu beenden.