Bundeswirtschaftsministerium und Bundesnetzagentur zu Folge ist die (vollständige) Wiederinbetriebnahme von Nord Stream 1 nach Abschluss der planmäßigen Wartungsarbeiten nicht gesichert. Bei einem kompletten Ausbleiben aller Gaslieferungen aus Russland oder einer weiteren Verknappung droht eine Verschlechterung der Versorgungslage.
Vor diesem Hintergrund wird der Ruf nach massiven Einsparungen des Gasverbrauchs zuletzt lauter. Der Freistaat Bayern hat am 18.07.2022 das sofortige Ausrufen der Gas-Notfallstufe 3 nach dem Energiesicherungsgesetz gefordert. Dies hätte zur Folge, dass die Bundesnetzagentur zum sogenannten Bundeslastverteiler würde und während der Notfalllage hoheitlich die Verteilung und Zuteilung der verknappten Gasmengen übernehmen würde.
Kommt es dazu, ist nicht ausgeschlossen, dass bestimmte Unternehmen oder gar ganze Branchen/Regionen nicht mehr mit ausreichend Energie versorgt werden, um ihren planmäßigen Geschäftsbetrieb aufrecht zu erhalten. Die dadurch hervorgerufenen Produktionsengpässe oder gar –ausfälle lassen erhebliche Auswirkungen auf bestehende Lieferketten erwarten.
Zu befürchten ist dabei einerseits, dass Unternehmen ihren Lieferverpflichtungen aufgrund eines eigenen Energiemangels nicht mehr nachkommen können. Andererseits könnten Produktionszweige zum Erliegen kommen, da Unternehmen ihre Materialien nicht mehr oder nur noch zu deutlich teureren Preisen am Markt beschaffen können.
Da die konkreten Rechtsfolgen solcher Leistungsstörungen innerhalb der Lieferketten naturgemäß von den konkreten Vertragsverhältnissen abhängen und nicht allumfassend abgebildet werden können, soll in diesem Beitrag anhand von zwei Szenarien ein allgemeiner Überblick über mögliche zivilrechtliche Konsequenzen eines (behördlich angeordneten) Gaslieferstopps gegeben werden:
- Szenario 1: Ein Hersteller (Kunde des Gaslieferanten) erleidet aufgrund eines Gaslieferstopps einen Produktionsausfall und kann in der Folge seinen eigenen Lieferverpflichtungen nicht mehr nachkommen.
- Szenario 2: Ein Hersteller wird selbst noch mit ausreichend Energie beliefert. Sein Materiallieferant unterliegt aber einem Gaslieferstopp und kann daher nicht mehr die zur Produktion erforderlichen Materialien liefern. Der Hersteller kann auf dem Markt Ersatz nur zu deutlich teureren Preisen beschaffen.
Befreiung von der Leistungspflicht aufgrund höherer Gewalt
Nicht selten enthalten Lieferverträge oder dazugehörige Liefer-AGB sog. höhere Gewalt-Klauseln. Diese sollen den Fall regeln, dass der Lieferant seinen Lieferverpflichtungen aufgrund höherer Gewalt (Force Majeure) nicht nachkommen kann. In aller Regel sehen derartige Klauseln eine Aussetzung der Lieferverpflichtung für die Dauer der höheren Gewalt vor. Zugleich werden Schadensersatzansprüche für die Zeit des Lieferausfalls ausgeschlossen und Kündigungs- bzw. Rücktrittsrechte für den Fall gewährt, dass der Zustand der höheren Gewalt über einen bestimmten Zeitraum hinaus anhält. Denkbar ist stets auch, dass vertraglich weitergehende Kündigungs- bzw. Rücktrittsrechte vorgesehen werden (etwa bei Vereinbarung eines Selbstbelieferungsvorbehalts).
Ist keine spezifische Definition des Begriffs der höheren Gewalt vorgesehen, ist die von der Rechtsprechung entwickelte Definition heranzuziehen. Danach ist höhere Gewalt ein betriebsfremdes, von außen durch Naturkräfte oder durch Handlungen Dritter herbeigeführtes Ereignis, das nach menschlicher Einsicht und Erfahrung nahezu unvorhersehbar ist und auch durch den Einsatz äußerster Sorgfalt nicht verhindert werden kann.
Wird Gas aufgrund eines Gasversorgungsengpasses nicht mehr geliefert (Szenario 1) stellte dies wohl einen Fall von höherer Gewalt dar. Kann ein Unternehmen dagegen noch produzieren und sieht sich (lediglich) deutlich höheren Produktionskosten ausgesetzt (Szenario 2), dürfte es sich nicht um höhere Gewalt handeln. Sind auf dem Markt dagegen bestimmte für die Produktion erforderliche Materialien gar nicht mehr zu beschaffen und hat das liefernde Unternehmen keine Beschaffungsgarantie übernommen, dürfte im Ergebnis nichts Anderes gelten als im Szenario 1.
Sehen die vertraglichen Bestimmungen eine höhere Gewalt-Klausel vor, ist diese auf ihre Wirksamkeit zu prüfen. Wirksamkeitsbedenken ergeben sich häufig aufgrund der – auch im B2B-Bereich – strengen Maßstäbe des AGB-Rechts.
Befreiung von der Leistungspflicht aufgrund Unmöglichkeit
Sehen die vertraglichen Regelungen keine Regelungen zum Umgang mit Leistungsstörungen aufgrund Energieengpässen oder aufgrund Selbstbelieferungsschwierigkeiten vor, können sich betroffene Unternehmen u.U. vorübergehend oder ggf. sogar dauerhaft auf eine Befreiung von ihren Leistungspflichten aufgrund Unmöglichkeit berufen.
Voraussetzung hierfür ist, dass die Leistung für den Schuldner oder für jedermann unmöglich ist (§ 275 Abs. 1 BGB), die Erbringung der geschuldeten Leistung also dauerhaft ausgeschlossen ist.
Sind diese Voraussetzungen erfüllt, hat der Kunde keinen Anspruch mehr auf die vom Hersteller/Lieferanten versprochene Leistung. Die Verpflichtung zur Leistungserbringung entfällt kraft Gesetzes. Zugleich entfällt die Gegenleistungspflicht des Kunden und der Kunde ist berechtigt, nach § 326 Abs. 5 BGB vom Vertrag zurückzutreten.
Szenario 1:
Steht einem Unternehmen aufgrund eines krisenbedingten Gaslieferstopps kein bzw. nicht mehr ausreichend Gas zur Verfügung, um die geschuldeten Produkte herzustellen, wird dies in der Regel einen Fall der Unmöglichkeit darstellen. Das betreffende Unternehmen wird von seinen Lieferpflichten gegenüber dem Kunden befreit.
Das Entfallen der Primärleistungspflicht wegen Unmöglichkeit schließt zwar etwaige Schadensersatzansprüche des Vertragspartners nicht von vornherein aus. Gesetzliche Schadensersatzansprüche setzen nach §§ 280 ff. BGB aber im Grundsatz ein Verschulden voraus. Jedenfalls soweit die Unmöglichkeit der Leistungserbringung auf einem gasmangelbedingten Lieferstopp beruht, dürfte ein Verschulden aus derzeitiger Sicht ausscheiden.
Szenario 2:
Wenn zur Herstellung benötigte Rohstoffe zwar nicht mehr vom eigenen Lieferanten, dafür aber von einem Drittlieferanten bezogen werden können, stellt dies grundsätzlich keinen Fall der Unmöglichkeit dar. Der Lieferant bleibt zur Leistung verpflichtet.
Wegfall der Geschäftsgrundlage
Ungeachtet dessen kann sich die betroffene Vertragspartei insbesondere im Szenario 2 u.U. auf den Wegfall der Geschäftsgrundlage nach § 313 BGB berufen.
Haben sich Umstände, die zur Grundlage des Vertrags geworden sind, nach Vertragsschluss schwerwiegend verändert und hätten die Parteien den Vertrag nicht oder mit anderem Inhalt geschlossen, wenn sie diese Veränderung vorausgesehen hätten, kann der eine Vertragspartner vom anderen die Anpassung des Vertrags verlangen, wenn und soweit ihm unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls das Festhalten am unveränderten Vertrag nicht zugemutet werden kann.
Die Anforderungen des § 313 Abs. 1 BGB sind sehr hoch und es ist gerichtlich nicht abschließend geklärt, ob die Preiskalkulation auf Seiten des Lieferanten überhaupt zur Geschäftsgrundlage eines (Rahmen-) Liefervertrages gehört. Als Grundlage der eigenen Kalkulation soll insbesondere der Preis für erforderliche Vorprodukte und Rohmaterial nach der Rechtsprechung des BGH grundsätzlich in den Risikobereich des Lieferanten fallen. Vor marktüblichen Preisschwankungen schützt § 313 BGB also nicht.
Bereits jetzt stellt sich aber die Frage, ob es sich bei den derzeitigen Beschaffungsschwierigkeiten und Preissteigerungen noch um marktübliche Preisschwankungen handelt, welche im Rahmen des Vorhersehbaren liegen.
Dies zeigt sich auch anhand der bisherigen Reaktion der Politik. Mit § 24 Energiesicherungsgesetz wurde ein Mechanismus geschaffen, der es Energielieferanten ermöglicht, steigende Preise an deren Kunden durchzureichen, um die Energieversorgung in Deutschland vor einem Zusammenbruch zu bewahren. Ob man Vertragsparteien eines Liefervertrages vor diesem Hintergrund unterstellen können wird, sie hätten den betreffenden Vertrag dennoch mit gleichem Inhalt geschlossen und keine Vorsorge für derart steigende Beschaffungspreise in der eigenen (Zu-)Lieferkette getroffen, erscheint zweifelhaft. Denn es ist wohl davon auszugehen, dass Vertragsparteien grundsätzlich von einem Marktumfeld ausgehen, welches eine stabile Preiskalkulation (einschließlich marktüblicher Schwankungen) ermöglicht.
Hier lässt sich eine Parallele zu Entscheidungen des BGH im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie ziehen: Laut dem BGH hatte die Corona-Pandemie Einfluss auf die sog. große Geschäftsgrundlage, das heißt auf die Erwartung der Parteien, dass sich die grundlegenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen eines Vertrages nicht ändern (BGH, Urt. v. 12.1.2022 – XII ZR 8/21 ).
Wendet man diesen Grundsatz auch bei prognostizierten Gasversorgungsengpässen und den damit einhergehenden massiven gesellschaftlichen und ökonomischen Auswirkungen an, wird ein Festhalten am Vertrag ab einem gewissen Punkt unzumutbar erscheinen. Problematisch ist dabei, dass sich Unternehmen nicht anhand starrer Grenzen auf die Unzumutbarkeit berufen können. Vielmehr wird dies von den konkreten Umständen des Einzelfalls abhängen; etwa von der Frage, in welchem Umfang sich Steigerungen der Energie- bzw. sonstigen Materialpreise auf das gesamte Preisgefüge des liefernden Unternehmens auswirken.
Kommt man zu dem Ergebnis, dass die Voraussetzungen des § 313 Abs. 1 BGB vorliegen, führt dies zunächst (nur) zu einem Anspruch auf Vertragsanpassung an die veränderten Verhältnisse. Ist eine Anpassung des Vertrags nicht möglich oder einem Vertragsteil nicht zumutbar, so kann die benachteiligte Vertragspartei nach § 313 Abs. 3 BGB vom Vertrag zurücktreten bzw. im Falle eines Dauerschuldverhältnisses dieses kündigen.
Fazit und Handlungsempfehlung
Finden sich in den vertraglichen Vereinbarungen keine Regelungen zum Umgang mit gasmangelbedingten Lieferengpässen oder jedenfalls mit Fällen höherer Gewalt, wird sich insbesondere die Frage stellen, ob die Leistungsstörungen in der Lieferkette auf Unmöglichkeit (insbesondere im Szenario 1) beruhen oder einen Wegfall der Geschäftsgrundlage (insbesondere im Szenario 2) begründen.
Da die Anforderungen in beiden Fällen recht hoch sind, empfiehlt es sich ungeachtet der derzeitigen rechtlichen Einschätzung, im eigenen Unternehmen frühzeitig zumutbare Vorkehrungen zur Aufrechterhaltung des Produktionsbetriebes zu treffen. Zudem empfiehlt es sich, Vertragspartner frühzeitig auf absehbare Lieferschwierigkeiten hinzuweisen. Damit ermöglicht man dem Vertragspartner zum einen, seinerseits zumutbare Vorsorgemaßnahmen (z.B. Ersatzbeschaffungen) zu veranlassen und zum anderen erfüllt man etwaige Informationspflichten gegenüber dem Vertragspartner.
Zusätzlich sollten Unternehmen Verlautbarungen der Politik zum Umgang mit Gasversorgungsengpässen sowie möglichen Hilfsprogrammen tagesaktuell verfolgen. Bis zum 31.08.2022 können antragsberechtigte Unternehmen beim Bundesamt für Ausfuhrkontrolle (BAFA) auf Basis des Energiekostendämpfungsprogramms Energiepreishilfen beantragen. Über die Voraussetzungen dieses Programms und das Antragsverfahren informiert meine Kollegin Dr. Victoria Berger in ihrem Beitrag vom 21.07.2022.
Bei Fragen oder Anmerkungen zu diesem Beitrag kontaktieren Sie mich gerne unter m.usselmann@melchers-law.com.