Aufgrund der COVID-19-Pandemie wurde im Jahr 2020 die Möglichkeit geschaffen, Hauptversammlungen ausschließlich in einem virtuellen Rahmen durchzuführen . (Siehe auch Blogbeitrag vom 15.04.2020) Die pandemiebedingten Sonderregelungen laufen nach dem 31. August 2022 aus.
Da die Resonanz zu virtuellen Hauptversammlungen überwiegend positiv war, soll diese – wie im Koalitionsvertrag angekündigt – im Zuge der fortschreitenden Digitalisierung des Aktienrechts dauerhaft gesetzlich verankert werden.
Das Bundesministerium der Justiz hat am 09. Februar 2022 den Referentenentwurf (RefE) eines Gesetzes zur Einführung virtueller Hauptversammlungen von Aktiengesellschaften veröffentlicht und damit den ersten Schritt auf Gesetzgebungsebene getan.
Dieser Beitrag soll einen ersten Überblick über die geplanten Neuerungen geben. Wenngleich nachfolgend die Aktiengesellschaft in den Blick genommen wird, sollen die Regelungen nach dem RefE auch für die Kommanditgesellschaft auf Aktien (KGaA), die Europäische Aktiengesellschaft (SE) sowie den Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit (VVaG) gelten.
Befristete Satzungsregelung als Grundvoraussetzung
Die virtuelle Hauptversammlung soll unabhängig von den zu behandelnden Gegenständen eine gleichwertige Alternative zur weiterhin möglichen Präsenzversammlung bilden.
Im Gegensatz zu den gegenwärtigen pandemiebedingten Sonderregelungen soll es künftig zwingend einer Satzungsregelung bedürfen, welche die virtuelle Hauptversammlung als Format vorsieht oder den Vorstand zur Durchführung einer virtuellen Hauptversammlung im Einzelfall ermächtigt (§ 118a AktG-RefE). Letzteres wird in der Praxis voraussichtlich den Regelfall darstellen.
In beiden Fällen ist die Satzungsregelegung nach Maßgabe des RefE auf maximal fünf Jahre zu befristen und kann von der Hauptversammlung mit der entsprechenden Mehrheit turnusmäßig erneuert werden.
Um den Gesellschaften zur Umsetzung der erforderlichen Satzungsänderung Zeit zu verschaffen, soll der Vorstand übergangsweise noch bis einschließlich 31. August 2023 auch ohne Satzungsgrundlage ermächtigt sein, virtuelle Hauptversammlungen mit Zustimmung des Aufsichtsrats einzuberufen.
Anforderungen an künftige virtuelle Hauptversammlungen
Die zur Abhaltung virtueller Hauptversammlungen pandemiebedingten Grundanforderungen (siehe auch Blogbeitrag vom 15.03.2021) sollen nach Maßgabe des RefE wesentlich erweitert werden. § 118 AktG-RefE enthält als zentrale Vorschrift des Gesetzgebungsvorhabens acht Kernanforderungen, durch welche die Aktionärsrechte auch in der virtuellen Hauptversammlung sichergestellt bzw. (wieder-)hergestellt werden sollen:
- Die gesamte Versammlung ist mit Bild und Ton zu übertragen.
- Die elektronische Stimmrechtsausübung muss gewährleistet sein.
- Aktionäre müssen Anträge in der Versammlung elektronisch stellen können. Gegenanträge nach § 126 AktG sind hiervon ausdrücklich nicht umfasst.
- Aktionären erhalten ein Auskunftsrecht in der Hauptversammlung im Wege elektronischer Kommunikation. Der Vorstand kann allerdings auch entscheiden, dass Aktionärsfragen bis spätestens vier Tage vor dem Versammlungstermin einzureichen sind. In diesem Fall erhalten die Aktionäre in der Versammlung ein Nachfragerecht.
- Vorabveröffentlichung des Vorstandsberichts oder dessen wesentlichen Inhalts bis sechs Tage vor der Versammlung.
- Den Aktionären wird das Recht eingeräumt, Stellungnahmen im Wege elektronischer Kommunikation einzureichen, welche den Aktionären zugänglich zu machen sind.
- Den Aktionären wird eine Redemöglichkeit im Wege der Videokommunikation eröffnet.
- Den Aktionären wird ein Widerspruchsrecht gegen einen Beschluss im Wege der elektronischen Kommunikation zur Verfügung gestellt.
Abmilderung von Anfechtungsrisiken wegen technischer Störungen
Um die Gesellschaften keinem unkalkulierbaren Anfechtungsrisiko aufgrund technischer Störungen auszusetzen, sollen die derzeitigen Einschränkungen des Anfechtungsrechts in § 243 Abs. 3 AktG erweitert werden. Sofern der Gesellschaft weder Vorsatz noch grobe Fahrlässigkeit vorzuwerfen ist, soll sich eine Beschlussanfechtung daher nicht auf durch technische Störungen verursachte Rechtsverletzungen stützen lassen.
Der RefE zielt dabei darauf ab, sicherzustellen, dass Gesellschaften nicht aus Sorge vor technischen Problemen davon absehen, virtuelle Hauptversammlungen durchzuführen.
Im Übrigen bleibt weitestgehend das Anfechtungsregime fortbestehen, welches auch bei Beschlüssen bei Präsenzversammlungen greift.
Fazit und Ausblick
Aus Sicht von Unternehmen ist zu begrüßen, dass unabhängig von der COVID-19-Pandemie ein Rechtsrahmen zur Abhaltung virtueller Hauptversammlungen geschaffen werden soll. Der RefE schafft insgesamt einen gelungenen Ausgleich zwischen dem Unternehmensinteresse an der rechtssicheren Durchführung von virtuellen Hauptversammlungen sowie den Belangen des Aktionärsschutzes.
Da Stand heute lediglich ein Referentenentwurf vorliegt, bleibt abzuwarten, welche Änderungen dieser im Laufe des weiteren Gesetzgebungsverfahrens noch erfährt. Aufgrund des Auslaufs der pandemiebedingten Sonderregelungen nach dem 31. August 2022 ist davon auszugehen, dass das Gesetzgebungsvorhaben zügig vorangetrieben wird.
Ebenso interessant wie die genaue Ausgestaltung des angestrebten Gesetzes wird die Frage sein, wie und vor allem wie schnell Hauptversammlungs-Dienstleister ihre Produkte an die künftigen rechtlichen Anforderungen anpassen werden.