Das europäische Recht auf Arbeitnehmerfreizügigkeit darf von Unternehmen nicht dergestalt missbraucht werden, dass über rein künstliche Konstruktionen die Unterschiede zwischen den einzelstaatlichen Systemen der sozialen Sicherheit der Mitgliedsstaaten ausgenutzt und somit möglichst geringe Sozialversicherungsbeiträge abgeführt werden. Ansonsten bestünde laut dem EuGH die langfristige Gefahr, dass das von den mitgliedsstaatlichen Systemen gebotene Schutzniveau unter einen Abwärtsdruck gesetzt wird. (EuGH, Urteil vom 16 Juli 2020, C‑610/18)
Hintergrund
Das Recht auf Freizügigkeit steht allen Arbeitnehmern und Selbstständigen in der Europäischen Union zu. Die Freizügigkeit von Arbeitnehmern hat es erforderlich gemacht, dass auf europäischer Ebene eine Koordination der mitgliedsstaatlichen Systeme der sozialen Sicherheit stattfindet. Dies ist über mehrere europäische Verordnungen (vorliegend sind Nr. 1408/71 und deren Modernisierung Nr. 883/2004 relevant) geschehen.
Im Grundsatz unterliegt eine Person, die im Gebiet eines Mitgliedsstaates abhängig beschäftigt ist, den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedsstaates. Für Mitglieder des fahrenden Personals eines Unternehmens, das im internationalen Verkehrswesen Güter befördert, gilt insofern eine Sonderregelung. Diese Personen unterliegen dem Recht des Staates, in dem das Unternehmen seinen Sitz hat, sofern sie keinen wesentlichen Teil der Arbeit in ihrem Wohnsitzmitgliedsstaat ausüben und für gewöhnlich in zwei oder mehr Mitgliedsstaaten ihrer Beschäftigung nachgehen.
Vorliegender Fall
In der Rechtssache C‑610/18, die dem EuGH zur Entscheidung vorgelegt wurde, ging es um eben solches fahrendes Personal. Ein zypriotisches Unternehmen schloss mit mehreren niederländischen Transportunternehmen sog. „Flottenmanagementverträge“. Das zypriotische Unternehmen sollte für die niederländischen Transportunternehmer die Verwaltung der von diesen im Rahmen ihrer Geschäftstätigkeit betriebenen Lastkraftwagen auf Rechnung und Gefahr der Transportunternehmen übernehmen. Konkret sollten die Fahrer, die beim zypriotischen Unternehmen angestellt waren, den Betrieb der niederländischen Lastkraftwagen übernehmen. Nach den Feststellungen des vorlegenden Gerichts hatten die betroffenen und im internationalen Güterkraftverkehr tätigen Lkw-Fahrer vor dem Abschluss dieser Arbeitsverträge niemals in Zypern gewohnt oder gearbeitet. Während der Durchführung der Verträge wohnten sie weiterhin in den Niederlanden und waren für Rechnung der genannten Transportunternehmen in zwei oder mehr Mitgliedstaaten tätig. Einige der Fahrer waren zudem zuvor bei den niederländischen Transportunternehmen angestellt, bevor sie einen Vertrag mit dem zypriotischen Unternehmen abschlossen. Im täglichen Betrieb der Transportunternehmen änderte sich indes nichts oder nur wenig. Einzig die Lohnabrechnungen kamen nunmehr aus Zypern.
Entscheidung
Der EuGH entschied nun, dass das zypriotische Unternehmen mit Blick auf das europäische Kollisionsrecht nicht als Arbeitgeber der Lkw-Fahrer anzusehen ist. Arbeitgeber i.S.d. Kollisionsrechts sei vielmehr das Unternehmen, das dem Fahrer gegenüber tatsächlich weisungsbefugt ist, das in Wirklichkeit die entsprechenden Lohnkosten trägt und das tatsächlich befugt ist, ihn zu entlassen. Dass die Arbeitsverträge formal mit dem zypriotischen Unternehmen geschlossen wurden, könne hieran nichts ändern.
Das Kollisionsrecht der EU soll sicherstellen, dass Arbeitnehmer, die in zwei oder mehr Mitgliedsstaaten tätig sind, den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedsstaates unterliegen. Die Festlegung welches Recht dies ist, richtet sich nach Auffassung des EuGH nach der objektiven Situation, in der sich der Arbeitnehmer befindet. Unter einem solchen System bleibe für die ausschließliche Anknüpfung an den formalen Abschluss und Bestand eines Arbeitsvertrags jedoch kein Raum. Andernfalls wäre es den Unternehmen freigestellt, über rein künstliche, formale Konstruktionen Einfluss darauf zu nehmen, welche einzelstaatlichen Rechtsvorschriften zur Anwendung kommen. Dies hätte wiederum zur Folge, dass Unternehmen – wie nach Auffassung des EuGH im vorliegenden Ausgangsfall – gezielt die Unterschiede der mitgliedsstaatlichen Sozialsysteme ausnutzen und das von diesen Systemen gebotene Schutzniveau unter einen Abwärtsdruck setzen könnten.
Fazit
Der EuGH hat mit dieser Entscheidung verdeutlicht, dass die kollisionsrechtlichen Normen im Bereich des Sozialrechts an die tatsächliche Situation des Arbeitnehmers anknüpfen und nicht zur Disposition der Unternehmen, zuständigen nationalen Behörden oder gar des Arbeitnehmers selbst stehen. Zugleich bringt der Gerichtshof seine – wohl nicht ganz unbegründete – Sorge zum Ausdruck, dass eine Anknüpfung an das formale Anstellungsverhältnis einem erheblichen Missbrauch durch Unternehmen Tür und Tor öffnet.
Die Entscheidung ist zu begrüßen, da die mitgliedsstaatlichen Sozialsysteme langfristig nur dann funktionstüchtig bleiben können, wenn für alle Personen, die ihnen objektiv als Arbeitnehmer unterfallen (müssten), entsprechende Beiträge geleistet werden. Formale Tricksereien – wie die des vorliegenden Ausgangsverfahrens – sollten daher bereits im Ansatz im Keim erstickt werden, um einen Abwärtsdruck auf das gebotene Schutzniveau der jeweiligen Systeme durch den Missbrauch der Arbeitnehmerfreizügigkeit zu verhindern.