Die Entlassung mehrerer Mitarbeiter muss beim Übersteigen festgelegter Schwellenwerte der Agentur für Arbeit angezeigt werden. Kündigungen können bereits wegen fehlender „Soll“ Angaben in der dazugehörigen Massenentlassungsanzeige unwirksam sein. Dies haben wir bereits in unserem Blogbeitrag vom 26.11.2021 beleuchtet. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat nunmehr jedoch für Erleichterung gesorgt. Fehler im Rahmen der Übermittlung an die Agentur für Arbeit führen nicht zur Unwirksamkeit der Kündigungen (EuGH, Urteil vom 13.07.2023 – C-134/22).
Hintergrund
Der Arbeitgeber hat die beabsichtigte Entlassung mehrerer Mitarbeiter im Rahmen einer Massenentlassungsanzeige der Agentur für Arbeit anzuzeigen (Anzeigeverfahren). Dies gilt, wenn die beabsichtigten Entlassungen quantitativ festgelegte Schwellenwerte übersteigen.
Weiter hat er vor den Entlassungen den Betriebsrat zu beteiligen (Konsultationsverfahren). Ziel des Konsultationsverfahrens ist es, mit dem Betriebsrat zu beraten, ob Entlassungen vermieden bzw. die Folgen gemindert werden können.
Nach der bisherigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) können Verstöße des Arbeitgebers gegen die ihn im Zusammenhang mit Massenentlassungen treffenden Pflichten zu einer Nichtigkeit der Kündigungen führen.
Sachverhalt
Nach Eröffnung des Insolvenzverfahren über das Vermögen einer GmbH wurde beschlossen, deren Geschäftstätigkeit bis spätestens 30.04.2020 einzustellen. In diesem Zuge sollten Massenentlassungen erfolgen.
Das Unternehmen leitete das Konsultationsverfahren ein und teilte dem Betriebsrat die in der Richtlinie über Massenentlassungen genannten Informationen mit. Der zuständigen Agentur für Arbeit wurde jedoch keine Abschrift dieser schriftlichen Mitteilung zugeleitet.
Der Betriebsrat erklärte in der Folge, dass er keine Möglichkeit sehe, die beabsichtigten Entlassungen zu vermeiden. Erst jetzt teilte die GmbH den Entwurf der Massenentlassung der Agentur für Arbeit mit. Die Agentur für Arbeit beraumte Beratungstermine für die meisten der von den beabsichtigten Entlassungen betroffenen Arbeitnehmer, so auch für den späteren Kläger, an.
In dem Verfahren vor den deutschen Arbeitsgerichten begehrte der Kläger die Feststellung der Unwirksamkeit seiner Kündigung. Er stützte sich darauf, dass der zuständigen Agentur für Arbeit nicht rechtzeitig eine Abschrift der Mitteilung an den Betriebsrat übermittelt worden sei. Seiner Auffassung nach sei dies aber eine Voraussetzung für die Wirksamkeit der Kündigung.
Das in der Sache befasste BAG stellte fest, dass weder die maßgebliche EU Richtlinie noch das nationale deutsche Recht eine ausdrückliche Rechtsfolge im Falle eines solchen Verstoßes vorsah. Das BAG hatte Zweifel, ob dieser Verstoß zwingend zur Nichtigkeit einer Kündigung führt und legte die Sache dem EuGH vor.
Entscheidung
Die Unwirksamkeit einer Kündigung ist anzunehmen, wenn die unterbliebene Übermittlung der Abschrift an die Agentur für Arbeit auch die individuellen Interessen der Arbeitnehmer schützt.
Diese individualschützende Wirkung sieht der EuGH bei der Übermittlungspflicht nicht. Die Übermittlungspflicht wolle keinen individuellen Schutz einzelner Arbeitnehmer gewährleisten. Hintergrund dieser Pflicht ist vielmehr, dass es den zuständigen Behörde ermöglicht wird, sich bspw. über die Gründe der geplanten Entlassungen, die Zahl der zu entlassenden Beschäftigten sowie den Zeitraum der Entlassungen einen Überblick zu verschaffen. Die Übermittlungspflicht setzt weder eine vom Arbeitgeber einzuhaltende Frist in Gang noch schaffe sie eine Verpflichtung für die zuständige Behörde. Die Übermittlung erfolgt nur zu Informations- und Vorbereitungszwecken, damit die Behörde gegebenenfalls ihre weiteren Befugnisse wirksam ausüben kann.
Hinweise für die Praxis
Die Entscheidung des EuGH ist zu begrüßen. Die Agentur für Arbeit hat in diesem Verfahrensstadium keine Möglichkeit, individuellen Schutz zugunsten der betroffenen Arbeitnehmer zu gewährleisten. Konsequenterweise sollte die Wirksamkeit der Kündigung nicht von Fehlern in diesem Stadium abhängig gemacht werden. Das Urteil reduziert die Risiken für Arbeitgeber im formal sehr aufwendigen Massenentlassungsverfahren.
Offen bleibt der Umgang des BAG mit dieser Entscheidung. Insbesondere, ob oder in welchem Umfang das BAG künftig die Auffassung vertritt, dass die Massenentlassungsrichtlinie überhaupt Individualrechtsschutz vermittelt. Weitere Vorlagen des BAG an den EuGH sind in dieser Frage nicht auszuschließen. Für die große Erleichterung ist es daher also zu früh. Arbeitgeber sind weiter gut beraten, Massenentlassungsanzeigen sorgfältig zu erstellen. Näheres wird erst der Umgang des BAG mit dieser Entscheidung des EuGH zeigen.