Die erste Insolvenz eines DAX-Unternehmens: Der tiefe Fall der Wirecard AG

Erst wenige Wochen sind vergangen, seitdem der Wirecard-Skandal die Börsen- bzw. Anlegerwelt erschüttert hat. Beinahe täglich kommen nun weitere Details aus dem Umfeld des Unternehmens ans Licht. Dabei steht die Wirecard AG bereits seit 2008 immer wieder im Fokus. Berichte über Unregelmäßigkeiten in Bezug auf Umsätze ebenso wie Behauptungen zu Kursmanipulationen durch Dritte wechselten sich ab mit positiven Meldungen über beeindruckende Wachstumsraten und neue Partnerschaften.

Testatsverweigerung und tiefer Fall

Ausgangspunkt des jüngsten und vielleicht auch letzten Skandals des 1999 als Startup gegründeten Zahlungsdienstleisters war nun die Weigerung der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Ernst & Young den Geschäftsbericht der Wirecard AG für das Geschäftsjahr 2019 zu testieren. Die Wirtschaftsprüfer beriefen sich darauf, dass keine ausreichenden Nachweise für die Existenz eines Bankguthabens der Wirecard AG in Höhe von EUR 1,9 Mrd. ermittelt werden konnten. Zunächst noch verteidigungsbereit (vgl. Süddeutsche Zeitung vom 18.06.2020: Wirecard kündigt Strafanzeige gegen unbekannt an ), musste Wirecard in einer Ad-hoc-Meldung am 22. Juni 2020 dann doch mitteilen, dass ein solches Guthaben auf Treuhandkonten in Höhe von 1,9 Mrd. Euro mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht bestehe . Der Börsenkurs der Wirecard Aktie fiel daraufhin innerhalb kürzester Zeit um mehr als zwei Drittel, Ermittlungsverfahren gegen Verantwortliche wurden eingeleitet, CEO Braun trat zurück und Berichte über den flüchtigen COO Marsalek machten Schlagzeilen. Bereits am 25. Juni 2020 stellte Wirecard einen Insolvenzantrag wegen drohender Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung. Zuletzt wurden nun auch Vorwürfe des Insiderhandels laut, nachdem bereits zu einem frühen Zeitpunkt in einem Börsen-Forum ein anonymer Hinweis auf die kommende Testatsverweigerung durch die Wirtschaftsprüfer erfolgte und auch Ex-CEO Braun durch die BaFin (Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht) vorgeworfen wird, umfangreiche Aktienpakete noch kurz vor Insolvenzantragsstellung veräußert zu haben (vgl. Handelsblatt vom 15.07.2020: Bafin zeigt Ex-Wirecard-Chef Braun wegen Insiderhandels an).

Bilanzkosmetik und Bilanzfälschung

Vorgeworfen wird Wirecard, die Bilanzen künstlich aufgebläht zu haben. Einnahmen wurden in der Konzernbilanz angegeben, die tatsächlich nicht erzielt wurden, mit der Folge, dass sich ein Betrag von 1,9 Mrd. Euro auf Treuhandkonten summiert haben soll, der faktisch nicht existierte. Die Ermittler im Fall Wirecard gehen davon aus, dass das Unternehmen für Investoren und Kunden finanzkräftiger und somit attraktiver erscheinen wollte. „Frisierte Bilanzen“, wie es der Volksmund nennt, sind eine häufige Stolperfalle für Unternehmen. Zu unterscheiden ist dabei stets zwischen legaler Bilanzpolitik, grenzwertiger Bilanzkosmetik und der strafbaren Bilanzfälschung.

Eine gezielte Gestaltung des Jahresabschlusses innerhalb der gesetzlichen Grenzen kann bereits durch die Inanspruchnahme von Wahlrechten, die das Bilanzrecht bietet, erfolgen. Gelegentlich an der Grenze zwischen legalen und illegalen Bilanzierungspraktiken liegen dagegen mitunter Maßnahmen, die der kurzfristigen optischen Verbesserung der Bilanz dienen, sog. Bilanzkosmetik oder auch Window Dressing. Wird der gesetzlich gewährte Ermessensspielraum dagegen überschritten und einzelne Bilanzposten willkürlich erhöht oder herabgesetzt, können strafrechtliche Tatbestände eröffnet sein. Darin begründet sich auch der Vorwurf gegen Wirecard.

Schaden auf Seiten der Anleger

Leidtragende des Wirtschaftskrimis um die Wirecard AG sind nicht zuletzt deren Anleger. Denn der massive Kurseinbruch der Wirecard Aktie führt auf Seiten der Anleger zu hohen Verlusten, auf denen diese nun sitzenzubleiben drohen. Schadensersatzansprüche könnten Anleger zwar insoweit gegen Wirecard geltend machen, als Wirecard als Emittent der Aktien frühzeitig über solche möglichen, nicht öffentlich bekannten Umstände informieren hätte müssen, die bei Bekanntwerden zu Kursverlusten führen könnten. Hier wird abzuwarten bleiben, wie sich die beantragte Eröffnung des Insolvenzverfahrens entwickelt und ob mit einer nennenswerten Quote für solche Ansprüche gerechnet werden kann.

Daneben kommt grundsätzlich auch eine direkte Inanspruchnahme der verantwortlichen Vorstandsmitglieder in Betracht, soweit diese eine Schädigung der Anleger bewusst in Kauf genommen haben. Ob diesen ein schuldhaftes Handeln nachgewiesen werden kann, ist zum derzeitigen Zeitpunkt aufgrund der laufenden Ermittlungen noch nicht sicher.

Umstritten ist in diesem Zusammenhang auch eine mögliche Haftung der beauftragten Wirtschaftsprüfer. Denn nach einem aktuellen Urteil des BGH (vgl. Urteil des BGH vom 12.03.2020, Az. VII ZR 236/19) kann Wirtschaftsprüfern auch gegenüber Anlegern eine Haftung aus vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung drohen, wenn „der Wirtschaftsprüfer seine Aufgabe nachlässig erledigt, zum Beispiel durch unzureichende Ermittlungen oder durch Angaben ins Blaue hinein und dabei eine Rücksichtslosigkeit an den Tag legt, die angesichts der Bedeutung des Bestätigungsvermerks für die Entscheidung Dritter als gewissenlos erscheint“. Die lange Geschichte der Berichterstattung über Unregelmäßigkeiten wirft die Frage auf, ob die Bilanzen nicht schon früher genauer geprüft hätten werden müssen. Letztlich kommt es aber auch hier darauf an, inwiefern ein solches Verhalten nachweisbar ist.

Fazit

Die Durchsetzung von Schadensersatzansprüchen wird sicherlich kein einfaches Unterfangen sein. Rechtliche Anknüpfungspunkte hierfür bestehen aber in mehrfacher Hinsicht. Die laufenden Ermittlungen werden vermutlich noch weitere Details an den Tag bringen, die ggf. die Durchsetzungen einzelner Ansprüche erleichtert.